Energiewende in der Stadt: Wie soll sie funktionieren?

Wie die Energiewende in der Stadt funktioniert

Veröffentlicht von

Erneuerbare Energie steht immer und überall zur Verfügung und sollte daher möglichst dezentral genutzt werden. Die meisten Menschen leben jedoch nicht umgeben von fruchtbaren Feldern, windumwehten Hügeln, üppigen Wäldern und rauschenden Bächen, wo erneuerbare Energie in Hülle und Fülle vorhanden ist. In der Europäischen Union leben 70 Prozent der Bevölkerung in Städten, Tendenz steigend. Haben wir auch dort genug erneuerbare Energiequellen, um die Versorgung abzusichern? Ja, sagt Roger Hackstock, es braucht aber neue Finanzierungs- und Geschäftsmodelle, um die Energiewende in der Stadt voranzutreiben. Wir haben in einem Interview mit dem Energieexperten und jetzt sogar Energiewende-Buchautor nachgefragt, was das konkret bedeutet.

Inhaltsverzeichnis

Roger Hackstock über die Energiewende in der Stadt
Energieexperte und Autor Roger Hackstock über die Energiewende in der Stadt und Beispielen wie es funktionieren könnte.

Cornelia Daniel-Gruber für unseren Blog über Solarthermie und die Wärmewende: Herr Hackstock, die Energiewende schreitet am Land rascher voran als in der Stadt. Warum ist das so?

Roger Hackstock: Viele Beispiele am Land zeigen, dass die erneuerbaren Energiequellen im Gemeindegebiet oft mehr als ausreichen, um den lokalen Energiebedarf zu decken. Der steirische Bezirk Murau etwa deckt seit Jahren den gesamten Strombedarf mit Ökostrom, bei Wärme wird ab nächstem Jahr der gesamte Bedarf aus Holz und Sonne gedeckt. In der Stadt ist der Energieverbrauch höher und die Menschen leben dichter, da reichen die erneuerbaren Quellen oft nicht aus – zumindest auf den ersten Blick.

Paradigma Blog: Und auf den zweiten Blick?

Roger Hackstock: In den meisten Städten entspricht das Solarpotenzial aller südseitigen Dächer fast genau dem Energiebedarf der Bevölkerung an Warmwasser und Heizung. Selbst in der Stadt ist also jede Menge erneuerbare Energie vorhanden. Die ungenutzten Dachflächen können für die solare Strom- und Wärmeerzeugung genutzt werden, auch Wärmepumpen können in der Stadt viel beitragen. In Bezirken mit vielen Einfamilienhäusern ist eine stärkere Nutzung von Pellets denkbar, da herrschen Bedingungen wie am Land.

Paradigma Blog: Warum wird das Potenzial dann nicht genutzt?

Roger Hackstock: Die bisher verfolgte Strategie war am Stadtrand Kraftwerke zu errichten, die mit Abfall und Biomasse befeuert werden. Vereinzelt wird auch Wasser, Wind und Biogas in der Stadt genutzt. Die Sonne wird bisher nur in Graz in großem Stil genutzt, dort liefern 13.000 Quadratmeter Sonnenkollektoren mit einer Leistung von 9 Megawatt das ganze Jahr Wärme ins städtische Fernwärmenetz. Stadtwerke und Verwaltung denken in Kraftwerken, die Energiewende in der Stadt muss aber künftig so wie am Land dezentral erfolgen. Das ist noch ein relativ neuer Gedanke.

Paradigma Blog: Gibt es da schon Beispiele oder steht man ganz am Anfang?

Roger Hackstock: Bei Strom haben einige Stadtwerke begonnen, Bürgersolaranlagen im Stadtgebiet zu errichten. Die sind immer nach kurzer Zeit ausverkauft, das Interesse ist enorm. Ein großes Potenzial sehe ich in der Kooperation mit Betrieben, die oft mitten in der Stadt riesige Dachflächen und einen hohen Wärme- und Stromverbrauch haben. In Wien baut der Lebensmittelhändler SPAR zusammen mit Wien Energie heuer zwei Photovoltaik-Anlagen auf seine Märkte, an denen sich Private ab einem Betrag von 950 Euro beteiligen können. Über 25 Jahre erhält man dafür jährlich 60 Euro SPAR Einkaufsgutscheine, was einer Verzinsung von über 5 Prozent entspricht. Das ist viel mehr als auf der Bank. Die Beteiligung war in zwei Tagen ausverkauft.

Ecoquent Positions: Wenn ein Betrieb mit hohem Energieverbrauch nicht genug geeignete Dachfläche zur Verfügung hat, was dann?

Roger Hackstock: Da gibt es auch Beispiele, die zeigen was möglich ist. In Deutschland hat eine Tochterfirma der Stadtwerke Kaiserslautern, die WVE GmbH, im Stadtgebiet auf einer ehemaligen Mülldeponie mehrere große PV-Freiflächenanlagen mit insgesamt 6,4 Megawatt Leistung errichtet. Ein Kilometer entfernt ist ein Gewerbegebiet mit hohem Stromverbrauch, dorthin führt das Kabel vom Solarpark. Die Betriebe haben die Möglichkeit, Teile der PV-Anlage zu erwerben und sich mit dem Strom selbst zu versorgen. Die ersten 3 Megawatt wurden im Oktober 2013 bereits an zwei Unternehmen verkauft. Der Solarstrom kostet weniger als 10 Cent pro Kilowattstunde, für Strom aus dem Netz müssen die Betriebe mehr zahlen. Auch für die nächsten 3 Megawatt gibt es bereits Anwärter. Die Sonne liefert mitten in der Stadt langfristig sichere Energiekosten, die Stadt verkauft das interessanterweise als Standortvorteil für die Unternehmen.

Paradigma Blog: Sie haben zwei Beispiele bei Strom genannt. Bei Wärme ist das schwieriger mit der Bürgerbeteiligung, oder?

Roger Hackstock: Das stimmt, aber auch hier gibt es ein aktuelles Beispiel, das Hoffnung gibt. Die Firma SOLID baut drei solarthermische Großanlagen in Graz und weiteren Städten und bietet seit Ende letzten Jahres für Private Beteiligungen zwischen 2.000 und 25.000 Euro an. Über 5 Jahre erhält man 4,5 Prozent Zinsen, also auch hier mehr als auf der Bank. Die Solaranlagen speisen ins Fernwärmenetz oder versorgen einen Gebäudekomplex. Interessant ist hier der erhöhte Beteiligungsschutz, weil das Geld als “Sondervermögen” verwaltet wird, aus dem die Projekte finanziert werden. Damit haben die Anleger im Insolvenzfall die gleichen Rechte wie Zulieferer usw., die normalerweise zuerst bedient werden. Das zeigt, dass die Energiewende nicht nur passende technische Lösungen braucht, sondern auch neue Finanzierungs- und Geschäftsmodelle, um attraktive Bedingungen und Sicherheiten für private Anleger zu schaffen. Ich glaube hier liegt ein Schlüssel, um die Energiewende in der Stadt voranzutreiben.

Paradigma Blog: Das hört man immer wieder: Es braucht neue Geschäftsmodelle. Über Bürgerbeteiligung hinaus gibt es aber noch kaum Ideen.

Roger Hackstock: Das stimmt nicht ganz. Die E.ON Hanse Wärme in Hamburg hat im Jahr 2012 ihr Wärmenetz für die Kunden geöffnet, die Solarwärme einspeisen wollen. Ab einer Kollektorfläche von mindestens 100 Quadratmeter Sonnenkollektoren lohnt sich die Einspeisung. Die Kunden haben 8 Monate Zeit, die Menge der eingespeisten Wärme für ein Nutzungsentgelt von 2,5 Cent pro Kilowattstunde wieder zu beziehen. Eigentlich war das Modell für Wohnbaugesellschaften gedacht, mittlerweile nutzen aber auch Betriebe die solare Einspeisemöglichkeit ins Netz wie ein Mercedes-Werk oder ein Containerterminal in der Stadt. Am spannendsten finde ich persönlich das Geschäftsmodell der dänischen Firma Sunmark, die ganze Ortschaften mit einem intelligenten Fernwärmesystem aus Sonne und Biomasse versorgt. Sie kombiniert Solarwärme, Biomasse, Wärmepumpe und einen großen Speicher zu einem ökonomisch lukrativen System. Das größte versorgt die Kleinstadt Marstal auf der Insel Ærø mit 33.000 Quadratmeter Kollektoren, einem 75 Millionen Liter Wasserspeicher, einer 1,5 Megawatt Wärmepumpe und einem 18 Megawatt Biomasse-Blockheizkraftwerk. Das ganze ist auf schwankende Preise an der Strombörse optimiert. Sind die Strompreise wegen viel Windstrom im Netz niedrig, so springt die Wärmepumpe an und versorgt den Ort billig mit Wärme aus dem Speicher. An sonnigen Tagen wiederum lädt die Solaranlage den Speicher nahezu kostenlos mit Wärme. Das Winterhalbjahr gehört dem Blockheizkraftwerk, vor allem wenn die Strompreise hoch sind. Dieses Beispiel finde ich deshalb so interessant, weil es bewusst darauf ausgerichtet ist Regelenergie zu liefern, um Netzschwankungen abzufedern.

Paradigma Blog: Was hat Regelenergie mit der Energiewende in der Stadt zu tun?

Roger Hackstock: Eine der größten Herausforderungen wird es künftig sein, das Stromnetz trotz großer Schwankungen bei Sonne und Wind stabil zu halten. Im dänischen Beispiel wird dafür Strom und Wärme über das Gesamtsystem verbunden, um Strom schnell abnehmen oder einspeisen zu können, je nachdem was das Netz braucht. Gerade in der Stadt ist diese Verbindung ideal, wenn ein Stromkraftwerk und ein Fernwärmenetz vorhanden sind. In Flensburg in Deutschland haben die Stadtwerke einen alten Schweröltank um 2 Millionen Euro umgebaut, um ihn wie einen Tauchsieder nutzen zu können. Ist zuviel Windstrom aus dem nahen Schleswig-Holstein oder Dänemark im Netz, wird Wasser mit dem überschüssigen Strom auf fast 100 Grad Celsius erhitzt. Der Speicher fasst 29 Millionen Liter Wasser und speist ins Fernwärmenetz. Den überschüssigen Strom kaufen die Stadtwerke Flensburg günstig an der Strombörse, die Wärme wird den Kunden aber zum Normalpreis weiterverkauft. Die Stromspeicherung mittels Wärme ist für die Stadtwerke sehr lukrativ und dient darüber hinaus der Netzstabilisierung. Die Städte könnten damit zu einem Schlüsselfaktor in der Energiewende werden, wenn die fossilen Kraftwerke zur Lieferung von Regelenergie in Zukunft wegfallen.
Ecoquent Positions: Danke, Roger Hackstock, dass Sie sich die Zeit für unser Gespräch genommen haben und viel Erfolg für ihr Buch: Energiewende – die Revolution hat schon begonnen. Hoffen wir, dass die tollen Beispiele die Runde machen und so auch die Wärmewende in Gang kommt. 

Titelbild: judihuii / photocase.com

Foto: (c) Roger Hackstock/Foto Wilke