Weltklima Kipppunkte

Und sie kippt doch!

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Eine Gruppe internationaler Forscher um David Armstrong McKay und Timothy Lenton von der University of Exeter (Großbritannien) veröffentlichte Anfang September die Ergebnisse ihrer Metastudie zum Weltklima und zu dessen Kipppunkten. Dafür werteten sie 200 Einzelstudien aus. Das Ergebnis ist mehr als besorgniserregend: Bis zum Jahr 2030 könnten demnach vier Kipppunkte für das Weltklima erreicht werden, darunter die Schmelze des grönländischen und des westantarktischen Eisschildes. Das Besorgniserregende daran sei: Das Überschreiten der Schwelle (Kipppunkt) könnte eine Dynamik in Gang setzen, in deren Zuge das Eis weiter schmelzen würde, auch wenn die Erderhitzung zum Stillstand käme. 

Der genannte Timothy Lenton sei laut Presseberichten übrigens einer der Wissenschaftler, die bereits im Jahr 2008 erstmals Kippunkte für das Weltklima benannten. Doch bevor wir gleich die wichtigsten Ergebnisse der Metastudie anschauen, beantworten wir zunächst die Frage:

Weltklima: Was ist ein Kipppunkt? (Begriffserklärung, Definition)

Mit der Erderhitzung gehen große Risiken für die Menschheit einher, darunter  zunehmende Wetterextreme wie Hitze, Dürren, Extremregen und stärkere Tropenstürme, ein Anstieg des Meeresspiegels sowie der Verlust ganzer Ökosysteme. Derartige Folgen des menschengemachten Klimawandels führen – teils schon heute, künftig wohl noch häufiger – zu Ernteausfällen mit Hunger, zur Ausbreitung von Krankheiten, zu zahlreichen Todesopfern, zu Massenmigration und im schlimmsten Fall zu internationalen Konflikten sowie zur Destabilisierung von Staaten. Die meisten dieser Risiken würden laut dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK)
mit der weiteren Erhitzung graduell wachsen – ohne definierte Kipppunkte.

Einige Teilsysteme des Klimasystems hätten dagegen bestimmte Kipppunkte beziehungsweise kritische Schwellenwerte. Würden die überschritten, käme es zu starken und teils unaufhaltsamen und unumkehrbaren Veränderungen. Diese Teilsysteme, darunter die Atlantikzirkulation,  nenne man „Kippelemente“, auf Englisch: “tipping elements”.

Timothy Lenton und Kollegen  definierten einen Kipppunkt 2008 schon als einen kritischen Grenzwert, an dem eine kleine zusätzliche Störung zu einer qualitativen Veränderung im System führen könne. Die Kipp-Elemente würden demnach oft lange Zeit nur wenig auf den Klimastress reagieren, aber wenn die Belastung dann nur geringfügig weiter zunähme, käme es zum Umkippen.

Kipppunkte des Klimas seien demnach Bedingungen, bei deren Überschreitung sich Veränderungen in einem Teil des Klimasystems von selbst fortsetzen würden. Diese Veränderungen können zu abrupten, unumkehrbaren und gefährlichen Auswirkungen mit schwerwiegenden Folgen für die Menschheit führen.

Ein Beispiel: Ein Gletscher, der infolge der Erderhitzung schmelze, verliere dabei an Höhe.  Damit lande seine Oberfläche in niedrigeren, wärmeren Luftschichten, die ihrerseits das Schmelzen wie ein Katalysator beschleunigen würden.

Aus der Definition Kippunkte lasse sich auf eine Grundeigenschaft der Kippelemente schließen, schreiben die Wissenschaftler des PIK: Sie würden nicht-linear reagieren und ihre Reaktion würde empfindlich von ihrem genauen Zustand abhängen, nämlich davon, ob man sich gerade in der Nähe des kritischen Grenzwerts befinde oder nicht. Diese Eigenschaft bringe es mit sich, dass wir von den Kippelementen in der Regel wüssten, dass es einen solchen kritischen Grenzwert gebe, aber nicht genau, wo dieser sich befinde beziehungsweise wie weit wir davon entfernt seien. Daher lie0e sich kein scharfe Grenzwert benennen, sondern es gebe einen Unsicherheitsbereich, in dem mit steigender globaler Temperatur das Risiko wachse, einen Kipppunkt zu überschreiten.

Metastudie – Kipppunkte des Weltklimas – kommt zu besorgniserregenden Ergebnissen

Seit der ursprünglichen Identifizierung der Kippelemente im Jahr 2008 hätten sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus

  • paläoklimatischen,
  • beobachtungsbasierten
  • und modellgestützten Studien

laut den Verfassern der Metastudie erheblich verbessert. Es seien demnach zusätzliche Kippelemente vorgeschlagen worden, darunter Teile des ostantarktischen Eisschildes,  während der Status anderer, darunter das arktische Sommermeereis, hinterfragt worden sei. Beobachtungen hätten ergeben, dass Teile des westantarktischen Eisschildes möglicherweise bereits einen Kipppunkt überschritten haben. Potenzielle Frühwarnsignale des grönländischen Eisschilds, der atlantischen meridionalen Umwälzzirkulation und der Destabilisierung des Amazonas-Regenwaldes seien entdeckt worden. In Klimamodellen habe man mehrere abrupte Verschiebungen festgestellt. Jüngste Arbeiten würden zudem darauf hinweisen, dass derzeit bis zu 15 Kipppunkte aktiv seien. Daher sei es an der Zeit gewesen, dieses neue Wissen zusammenzufassen und eine überarbeitete Liste potenzieller Kippelemente und ihrer Kipppunkte zu erstellen.

Weltklima Kipppunkte_PIK

David Armstrong McKay und Timothy Lenton und Kollegen hätten eigenen Angaben zufolge

  • neun globale “Kern”-Kippelemente identifiziert, die wesentlich zum Funktionieren des Erdsystems beitrügen,
  • und sieben regionale “Auswirkungs”-Kippelemente, die wesentlich zum menschlichen Wohlergehen beitrügen oder als einzigartige Merkmale des Erdsystems von großem Wert seien.

Die geschätzten CTP-Schwellenwerte hätten demnach erhebliche Auswirkungen auf die Klimapolitik: Die derzeitige globale Erwärmung von rund 1,1 Grad Celsius (°C) über dem vorindustriellen Niveau liege bereits

  • innerhalb des unteren Endes von fünf CTP-Unsicherheitsbereichen.
  • Sechs CTPs würden wahrscheinlich (weitere vier seien möglich) innerhalb des Bereichs des Pariser Abkommens von 1,5 bis weniger als 2°C Erhitzung werden, einschließlich des Zusammenbruchs des grönländischen und westantarktischen Eisschilds, des Absterbens von Korallenriffen in den niedrigen Breiten und des weit verbreiteten abrupten Auftauens von Permafrostböden.
  • Bei einer Erhitzung von rund 2,6°C, wie sie bei der derzeitigen Politik zu erwarten sei, werde ein weiteres CTP wahrscheinlich und drei weitere seien möglich.

“Wir sehen bereits Anzeichen für eine Destabilisierung in Teilen der westantarktischen und grönländischen Eisschilde, in Permafrostgebieten, im Amazonas-Regenwald und möglicherweise auch in der atlantischen Umwälzzirkulation,” erklärt der Hauptautor David Armstrong McKay vom Stockholm Resilience Centre, der Universität Exeter und der Earth Commission.

Die Metastudie liefere laut ihren Verfassern überzeugende wissenschaftliche Beweise für dringende Maßnahmen zum Eindämmen des Klimawandels. Sie zeige, dass selbst das Ziel des Pariser Abkommens, die Erwärmung auf deutlich unter 2 °C und vorzugsweise auf 1,5 °C zu begrenzen, nicht sicher sei, da bei 1,5 °C und mehr die Gefahr bestünde, dass mehrere Kipppunkte überschritten würden.

Das Überschreiten dieser Kipp-Punkte könne positive Rückkopplungen erzeugen, die die Wahrscheinlichkeit des Überschreitens anderer Kipp-Punkte erhöhten. Gegenwärtig steuere die Welt auf eine globale Erhitzung von 2 bis 3 °C zu; im besten Fall, wenn alle Netto-Null-Zusagen und national festgelegten Beiträge umgesetzt würden, könnte sie knapp unter 2 °C liegen. Dies würde die Kipp-Punkt-Risiken zwar etwas verringern, wäre aber immer noch gefährlich, da es mehrere Klima-Kipp-Punkte auslösen könnte.

“Die Welt ist bereits von einigen Kipppunkten bedroht. Wenn die globalen Temperaturen weiter ansteigen, werden weitere Kipppunkte möglich”, fügt Armstrong McKay hinzu. “Die Wahrscheinlichkeit des Überschreitens von Kipppunkten kann durch ein rasches Senken der Treibhausgasemissionen verringert werden, und zwar ab sofort.”

Grafiken: Titel https://www.science.org/doi/10.1126/science.abn7950#, Text:: https://www.pik-potsdam.de/de/aktuelles/nachrichten/risiko-des-ueberschreitens-mehrerer-klima-kipppunkte-steigt-bei-einer-globalen-erwaermung-von-mehr-als-1-5degc