Gasverbrauch senken Kurzdossier Ariadne

Das ist zu tun: 30 Prozent runter mit dem Gasverbrauch!

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Noch sparen die Deutschen zu wenig Gas. Das zeigen aktuelle Berechnungen zum Gasverbrauch von 30 Forschern im Rahmen der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Kopernikus-Projekt Ariadne. In ihrem Kurzdossier “Deutschland auf dem Weg aus der Gaskrise – wie sich Klimaschutz und Energiesouveränität vereinen lassen” schreiben die Analysten unter anderem, dass das größte Potenzial, um im Gebäudesektor kurzfristig zu reduzieren, in einer Anpassung des Heizverhaltens der Menschen liegen würde. Zum Beispiel könnten die Raumtemperatur gesenkt, bedarfsgerecht geheizt und die Heizung intelligent (smart) gesteuert werden. Zusammen mit einem beschleunigten Hochlauf von Wärmepumpen, dem Anschluss an Fern- und Nahwärmenetze und einer stärkeren energetischen Sanierung des Gebäudebestands ließen sich im Gebäudesektor demnach bis zum Jahr 2023 gut 30 Prozent des Gasbedarfs aus Vorkrisenzeiten einsparen.

Gunnar Luderer, Vizeleiter des Ariadne-Projekts vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung sagte gegenüber der Presse, dass man mit Einsparungen in dieser Größenordnung nicht nur eine Gasmangellage mit Lieferunterbrechungen vermeiden, sondern  auch die Gaspreise und verbleibenden Importabhängigkeiten auf ein erträgliches Maß begrenzen könne. Kurzfristig sei dies demnach der wichtigste Baustein, um Deutschlands Energiesouveränität und geopolitische Widerstandskraft wieder zu erhöhen.

Im vorgelegten Kurzdossier, das ihr hier online lesen oder kostenlos downloaden könnt, analysiere man

  • die Auswirkungen der Energiekrise auf die Transformation des deutschen Energiesystems zur Klimaneutralität 2045
  • sowie Strategien zur Beseitigung der Abhängigkeit Deutschlands von russischen Erdgasimporten.

Die Energiekrise infolge des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine habe demnach tiefgreifende Auswirkungen auf die deutsche und europäische Energiewirtschaft. Am markantesten sei laut dem Kurzdossier dabei der massive Anstieg der Gaspreise: Der für Deutschland und Nordwest-Europa maßgebliche Gaspreis am niederländischen Gashandelspunkt TTF habe im August 2022 mehr als zehnfach über dem langjährigen Mittel vor der Krise gelegen. Infolge dessen, sowie wegen relevanter Sondereffekte im europäischen Stromsystem – darunter

  • Sicherheitsabschaltungen einer großen Zahl französischer Kernkraftwerke,
  • eine geringe Stromerzeugung aus Wasserkraft
  • sowie Logistikprobleme bei Steinkohle infolge des Dürresommers –

habe es eine vergleichbare Vervielfachung des Großhandelspreises für Strom gegeben. Auch Steinkohle und Erdöl seien wegen des weitgehenden Verzichts auf Energieträgerimporte aus Russland teurer, wenn auch in deutlich geringerem Umfang, schreiben die Wissenschaftler.

Dass diese Energiepreisschocks dramatische Effekte hätten, würden Studien belegen: Vor allem für einkommensschwache Haushalte, die mit Erdgas heizen würden, könne die Mehrbelastung infolge hoher Energiepreise mehr als 20 Prozent des Haushaltseinkommens betragen, ist in der Zusammenfassung des Kurzdossiers zu lesen. Die Bundesregierung habe entsprechend einen Abwehrschirm im Umfang von 200 Milliarden Euro zur Abmilderung der Folgen für Verbraucher und Unternehmen angekündigt. Das sei laut den Wissenschaftlern hinter dem Dossier eine zumindest in Bezug auf das Energiesystem bislang beispiellos große fiskalische Intervention.

Erste Auswirkungen auf die deutsche Gasnachfrage seien demnach erkennbar:

  • Bei Kleinverbrauchenden, im wesentlichen in der Gebäudewärme, seien die Abweichungen vom Verbrauchsniveau der Vorjahre bisher allerdings vor allem witterungsbedingt.
  • Die derzeitige Stromerzeugung aus Gas sei zwar im Vergleich mit der im Jahr 2021 reduziert, gemessen am langjährigen Mittel jedoch konstant.
  • Die Industrie hingegen reagiere spürbar sensibler auf die hohen Preise: Bisher liege der industrielle Gaseinsatz im Jahr 2022 um etwa 20 Prozent unter dem der Vorjahre.

Der noch immer hohe Gasverbrauch – nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen EU-Staaten – verschärfe die extreme Sensitivität des Gasmarktes auf geopolitische Entwicklungen. Auf Grund bestehender Lieferverhältnisse und Planungen schätzen die Wissenschaftler, dass Deutschland bei einem Ausfall russischer Gaslieferungen in den nächsten Jahren bei zusätzlichem Import substanzieller Mengen LNG (liquefied natural gas) ein Gasangebot von etwa 600 Terawattstunden (TWh) jährlich aus verlässlichen Lieferländern und einheimischer Förderung sichern könne. Deis komme einer Reduktion von 30 Prozent im Vergleich zum Vorkrisengasverbrauch gleich.

Den Gasverbrauch auf dieses Niveau zu senken, erhöhe die geopolitische Resilienz Deutschlands und sei somit in der aktuellen Gaskrise der Kernbaustein zur kurzfristigen Wiedererlangung der deutschen Energiesouveränität, schreiben die Wissenschaftler.

Ein derartiger Nachfragerückgang leiste ihnen zufolge auch einen fairen Beitrag Deutschlands zur Minderung der Gasknappheit auf dem integrierten europäischen Markt und trage somit zur Reduktion der Gaspreise bei. Die Begrenzung der Gaspreise wiederum sei entscheidend, um die Kosten der Gaskrise für Verbraucher, Industrie und den Fiskus beherrschbar zu halten.

Entsprechend habe man sich bei dem für die Studie durchgeführten Modellvergleich auf ein Szenario “Energiesouveränität” konzentriert, das

  • neben der Erreichung der Klimaschutzziele für 2030 (Minderung der Treibhausgas-Emissionen um 65 Prozent gegenüber 1990) und 2045 (Netto-Null Treibhausgasemissionen)
  • auch die vor allem für die nächsten Jahre relevante Verbrauchsminderung für Erdgas einhalte.

Neben Gesamtsystemmodellen, die integrierte sektorübergreifende Zielerreichungspfade entwickeln, kämen auch detaillierte Sektormodelle zum Einsatz, die die spezifischen Gaseinsparpotenziale in den Sektoren Industrie, Stromerzeugung und Gebäude sowie synergetische Einsparungen fossiler Kraftstoffe mit einer beschleunigten Verkehrswende untersuchten.

Die Ergebnisse der Studie im Überblick

Für die einzelnen Sektoren würden sich demnach folgende Kerneinsichten ergeben:

  1.  Auf einem Pfad zur Energiesouveränität würden in erster Linie die Umsetzung der Ausbauziele erneuerbarer Energien und ein kurzfristig stärkerer Einsatz von Kohlekraftwerken, die teils aus der Reserve reaktiviert oder später als geplant stillgelegt würden, einen Rückgang der Gasverstromung bis zum Jahr 2023 um bis zu 50 Prozent beziehungsweise bis zum Jahr 2025 um bis zu 80 Prozent ermöglichen. Dabei würden die Einsparmöglichkeiten auch davon abhängen, wie sich die Nachfrage nach Strom in Deutschland und der Export in Nachbarländer entwickle, sowie von der Möglichkeit der tatsächlichen dauerhaften Reaktivierung der heutigen Reserveanlagen. Die gerade beschlossene Laufzeitverlängerung für zwei der drei verbliebenen Kernkraftwerke bis April 2023 würde demnach insbesondere zu zusätzlichen Stromexporten führen und zugleich die Klimagasemissionen senken. Sie trüge jedoch nur unwesentlich zu Gaseinsparungen in Deutschland bei.
  2.  Das größte Potenzial, um im Gebäudesektor den Gasverbrauch kurzfristig zu reduzieren, liege laut demn Wissenschaftlern darin, dass die Menschen ihr  Heizverhalten anpassen würden. Dafür geeignete Maßnahmen seien unte randerem ein Absenken der Raumtemperatur, ein bedarfsgerechte(re)s Heizen sowie eine intelligente(re) Heizungssteuerung. In Kombination mit einem Push von Wärmepumpen, dem Anschluss an Wärmenetze und einer stärkeren energetischen Sanierung des Gebäudebestands ließen sich im Gebäudesektor bis zum Jahr 2023 gut 30 Prozent des Gasbedarfs einsparen.
  3.  Auf hohe Erdgaspreise könne die Industrie laut der Studie kurz- bis mittelfristig in Teilen mit dem Wechsel auf andere Energieträger und Rohstoffe (Mineralölprodukte wie Heizöl, LPG, Naph-tha, Biomasse) reagieren. Eine beschleunigte Elektrifizierung der Dampfbereitstellung würde ermöglichen, den Gaseinsatz zu senken. Darüber hinaus sei in einem Energiesouveränitätsszenario auch mit einer Produktionsdrosselung und dem Import energieintensiver Vorprodukte wie Ammoniak zu rechnen, insbesondere wenn das Vertrauen in den Energieträger Erdgas, als Brücke hin zu CO2-freien Produktionsprozessen, nachhaltig beschädigt sei. Bis zum Jahr 2025 könne sich der Gaseinsatz in der Industrie so um gut 50 Prodent reduzieren.

Aus Gesamtsystemsicht bewerten die Wissenschaftler folgende Erkenntnisse als besonders relevant:

  1. Klimapolitik und CO2-Bepreisung würden bei einer Normalisierung der Energiepreise im Laufe der 2020er Jahre zu einem mäßigen, ab 2030 zu einem starken Rückgang des Erdgasverbrauchs führen. Die Klimaneutralität 2045 impliziere auch einen nahezu vollständigen Ausstieg aus der Nutzung von Erdgas und anderen fossilen Energieträgern bis 2045. Die Klimaziele und CO2-Bepreisung allein seien jedoch nicht ausreichend, um in den nächsten Jahren den Gasverbrauch um 30 Prozent zu senken.
  2. Die Potenziale in den Einzelsektoren Gebäude, Energiewirtschaft und Industrie seien grundsätzlich ausreichend, um in den Jahren bis 2025 den jährlichen Gasverbrauch Deutschlands auf ein Niveau zu begrenzen, das ein hohes Maß an Energiesouveränität und insbesondere die Unabhängigkeit Deutschlands von russischen Erdgasimporten ermögliche. Hierzu sei jedoch eine deutliche Trendwende in der Energiewirtschaft und Gebäudewärme notwendig, die bisher kaum Verbrauchsminderungen hätten realisieren können.
  3. Die Gesamtsystemmodelle zeigten: Alle Verbrauchssektoren müssten zur Gaseinsparung beitragen. Erhebliche Unsicherheit bestünde jedoch bezüglich der Aufteilung der Minderungsanforderungen auf die verschiedenen Sektoren. Diese Unsicherheiten seien insbesondere bestimmt vom Heizverhalten, von der Witterung und vom Wärmepumpenhochlauf (im Gebäudesektor) beziehungsweise  von Ausbau und Erzeugung von Wind- und PV-Strom, Kohleverstromung, Stromnachfrage und Entwicklungen auf dem europäischen Strommarkt (Energiewirtschaft).
  4. Wegen der unmittelbaren Inzidenz von Preissignalen und der hohen Preiselastizität reagiere die industrielle Gasnachfrage kurzfristiger und besonders direkt auf die Gasknappheit. Es gelte: Je geringer die Einsparleistung bei der Gebäudewärme und der Energiewirtschaft sei, desto höher sei der Einspardruck bei der Industrie – mit entsprechend stärkeren negativen Auswirkungen auf energieintensive Branchen und die Konjunktur.
  5. Das Ziel der Energiesouveränität – im Sinne einer grundsätzlichen Begrenzung der Abhängigkeit von einzelnen Energielieferanten, kurzfristig insbesondere von russischen Erdgaslieferungen – und die Klimaschutzziele seien laut dem Kurzdossier kein Widerspruch. Im Gegenteil: Die Senkung des Gasverbrauchs um 250 TWh allein führe zu einer CO2-Minderung von 50 Megatonnen (Mt) CO2 pro Jahr gegenüber dem Mittel von 2017 bis 2021. Ein Teil der Gasminderung ginge demnach zwar mit einem Brennstoffwechsel auf Kohle oder Heizöl einher, die daraus resultierenden Mehremissionen seien aber vom europäischen Emissionshandel gedeckelt, der die maßgeblichen Sektoren Energiewirtschaft und Industrie abdecke und die Höhe der CO2-Emissionen begrenze. Wegen höherer fossiler Energiepreise würden die volkswirtschaftlichen Kosten des Energiesystems im Energiesouveränitätsszenario gegenüber dem Klimaschutzreferenzszenario steigen. Allerdings seien die CO2-Grenzvermeidungskosten im Energiesouveränitätszenario zur Erreichung der Minderungsziele 2030 nur halb so hoch. Die Klimaziele könnten in diesem Fall also mit geringerer CO2-Bepreisung erreicht werden.

Titelbild: Ariadne-Kurzdossier