Eine Begrenzen der Erderhitzung auf 1,5 Grad Celsius (° C) sei derzeit nicht plausibel. Das ist das Ergebnis einer neuen, zentralen Studie des Exzellenzclusters “Klima, Klimawandel und Gesellschaft” (CLICCS) der Universität Hamburg. Klimapolitik, Proteste und Ukraine-Krise: Die an der Studie beteiligten Wissenschaftler haben dafür systematisch untersucht, inwieweit gesellschaftliche Veränderungen bereits im Gange seien – und analysierten zugleich bestimmte physikalische Prozesse, die häufig als Kipppunkte diskutiert würden. Ihr Fazit: Gesellschaftlicher Wandel sei essenziell, um die in Paris gesetzten Temperaturziele zu erreichen. Aber: Das bisher Erreichte sei unzureichend. Dementsprechend müsse auch die Klimaanpassung aus einem neuen Blickwinkel angegangen werden.
Das interdisziplinäre Forscherteam habe sich nach eigenen Angaben mit zehn wichtigen Treibern des gesellschaftlichen Wandels beschäftigt: atsächlich sei beim Klimaschutz einiges in Bewegung geraten. Aber wenn man sich die Entwicklung gesellschaftlicher Prozesse im Detail anschaue, sei es immer noch nicht plausibel, die Erderhitzung unter 1,5 ° C zu halten. Das sagt CLICCS-Sprecherin Prof. Anita Engels in der zugehörigen Pressemeldung der Uni Hamburg. Laut dem Hamburg Climate Futures Outlook, den ihr hier kostenlos aus dem Internet downloaden könnt, würden vor allem
- Konsummuster
- und Reaktionen der Unternehmen
dringend notwendige Klimaschutzmaßnahmen bremsen.
Andere Schlüsselfaktoren wie die UN-Klimapolitik, Gesetzgebung, Klimaproteste und der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen würden demnach die Bemühungen unterstützen, die Klimaziele zu erreichen. Wie die Analyse zeige, werde diese positive Dynamik allein jedoch nicht ausreichen, um innerhalb der 1,5-Grad-Grenze zu bleiben. Die notwendige tiefe Dekarbonisierung schreite einfach zu langsam voran, sagte Engels gegenüber der Presse.
Darüber hinaus habe das Forscherteam bestimmte physikalische Prozesse bewertet, die häufig als Kipppunkte diskutiert würden:
- Der Verlust des arktischen Meereises
- und schmelzende Eisschilde seien demnach gravierende Entwicklungen –
- ebenso wie regionale Klimaveränderungen.
Doch sie würden bis zum Jahr 2050 kaum Einfluss auf die globale Temperatur haben. Wichtiger seien dabei
- ein tauender Permafrost,
- eine geschwächte Atlantic Meridional Overturning Circulation (AMOC)
- und der Verlust des Amazonaswaldes – wenn auch nur mäßig.
Fakt sei: Diese befürchteten Kipppunkte könnten die Lebensbedingungen auf der Erde drastisch verändern – aber sie seien weitgehend irrelevant für das Erreichen der Temperaturziele des Pariser Abkommens. Das erklärt CLICCS-Co-Sprecher Prof. Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie.
Die Studie befasse sich auch mit der COVID-19-Pandemie und der völkerechtswidrigen russischen Invasion in der Ukraine: Wirtschaftliche Wiederaufbauprogramme hätten demnach die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verstärkt, was bedeute, dass die notwendigen Veränderungen nun weniger plausibel seien als bisher angenommen.
Unklar bleibe hingegen, ob die Sicherung der Stromversorgung Europas und die Versuche der internationalen Gemeinschaft, unabhängig von russischem Gas zu werden, den Ausstieg aus fossilen Energieträgern langfristig untergraben oder beschleunigen würden.
Rolle des menschlichen Handelns – neuer Ansatz für die Klimaanpassung
Der Outlook sei derzeit die einzige Bewertung, die sozialwissenschaftliche und naturwissenschaftliche Analysen in einer integrierten Studie miteinander verknüpfe, um die Plausibilität bestimmter Klimazukünfte zu bewerten. Mehr als 60 Experten hätten dazu beigetragen. Die beste Hoffnung für die Gestaltung einer positiven Klimazukunft liege laut der Studie in der Fähigkeit der Gesellschaft, grundlegende Veränderungen vorzunehmen (“human agency”). Darüber hinaus zeige der Outlook eine Reihe von Bedingungen dafür auf, etwa, dass transnationale Initiativen und nichtstaatliche Akteure den Klimaschutz weiterhin unterstützen und dass Proteste den Druck auf die Politik aufrechterhalten.
Die Frage, was nicht nur theoretisch möglich, sondern auch plausibel sei, also realistisch zu erwarten sei, biete neue Ansatzpunkte, sagte Anita Engels. Wenn die Klimaziele nicht erreicht würden, werde die Anpassung an die Auswirkungen umso wichtiger. In diesem Zusammenhang stellte der Hamburg Climate Futures Outlook ein neues Instrument vor, um die Langzeitwirkung verschiedener Maßnahmen zu testen. Sie müssten mehr tun, als nach Ausbruch der Krise zu unterstützen: Um für eine wärmere Welt gerüstet zu sein, müssten wir
- Veränderungen antizipieren,
- die Betroffenen ins Boot holen
- und das Wissen vor Ort nutzen.
Anstatt nur zu reagieren, müssen wir hier und jetzt eine aktive Transformation beginnen.
Foto: CLICCS / Universität Hamburg